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Die bescheidene Pionierin: Wie die schwedische Malerin Hilma af Klint die Kunstgeschichte auf den Kopf stellte

Hilma af Klint - Untitled Nr. 1 aus einer Serie von Altargemälden

Die bescheidene Pionierin: Wie die schwedische Malerin Hilma af Klint die Kunstgeschichte auf den Kopf stellte

Seit der großen Retrospektive zu Ehren Hilma af Klints im Moderna Museet in Stockholm im Jahre 2013 gilt die Ausnahmekünstlerin als Pionierin der Abstraktion. Wer ist diese einzigartige Frau, die Jahrzehnte nach ihrem Tod plötzlich Wassily Kandinsky von seinem Thron als Vorreiter der abstrakten Malerei zu stoßen vermochte?

Hilma af Klint war eine schwedische Künstlerin, die Zeit ihres Lebens freiwillig eine Junggesellin blieb und mit einer leidenschaftlichen Hingabe für das Okkulte und Übersinnliche sowohl ihren Alltag als auch ihre Malerei gestaltete. Die Monumentalwerke der Malerin wirken auf den Betrachter sonderbar und einnehmend. Ihre imposantesten Bilder, Öl und Tempera auf Papier, sind über drei Meter groß, psychedelisch, frech und sehr bunt. Tiefes Blau und grelles Gelb trifft auf warmes Rot, zartes Rosa und beißendes Orange auf pechschwarzem Hintergrund. Trotz der überschwemmenden Fülle in Form und Farbe sind die Bilder nach den unausgesprochenen Gesetzen der Harmonie ausgerichtet: eine Ästhetik, die vom Künstler selbst gefühlt werden muss, die nicht bloß nach akademischem Maß durchdacht ist.
Abstrahierte Gegenstände, Schwäne, Kreise oder Blütenknospen: Was abgebildet ist, scheint voller Lebendigkeit. Auch wenn nicht jeder in den glücklichen Umstand kommt, direkt vor einem dieser abstrakten Giganten zu stehen oder die atemberaubenden Bilder real betrachten zu können, kann er die magische Präsenz auch in den Fotografien und Replikationen der Kunstwerke erleben.

Die Malerin Hilma af Klint legte in ihrem Testament fest, dass ihre Arbeiten – 1.200 Gemälde, 100 Texte und 26.000 Seiten Notizen – erst 20 Jahre nach ihrem Tod gezeigt werden sollten. Sie starb 1944 im Alter von 81 Jahren. Bei der Ausstellung „The Spiritual in Art″ in Los Angeles im Jahre 1986 wurden ihre Arbeiten zum ersten Mal postum mit gewissem, dennoch zögerndem Erfolg öffentlich gezeigt. Andere Ausstellungen folgten. Die sensationelle Künstlerin erlangte die verdiente Aufmerksamkeit von der internationalen Kunstszene jedoch erst im Jahre 2013 bei der Ausstellung mit dem Titel „Pioneer of Abstraction″, zu deutsch: Pionier der Abstraktion. In ihrem Fall: eine Pionierin.

Eine melancholische Heiterkeit

Das Moderna Museet zählt diese Show zu ihrem bisher größten Erfolg. Und die Künstlerin Hilma af Klint wurde unerwartet und überraschend fast sieben Jahrzehnte nach ihrem Tod sowohl zum Presse- als auch zum Publikumsliebling. Die sogenannten Ten Larges, ihre monumentalen Werke, stehen ganz in der Thematik der Evolution des Menschen. Dem nüchternen wissenschaftlichen Inhalt zum Trotz strahlen die Bilder af Klints bittersüße Fröhlichkeit aus. Es ist eine Malerei, die das Auge erfreut und die – auch ohne jegliche Symbolik zu kennen – erstmal persönlich wahrgenommen werden kann. Simpel ist Hilmas Kunst dennoch nicht. Die Kuratorin der erfolgreichen Ausstellung Iris Müller-Westermann weiß von Menschen zu berichten, die, als sie leibhaftig vor den Bildern der Hilma af Klint standen, anfangen haben zu weinen, aber nicht erklären konnten wieso. Frauen wie Männer zeigten sich bewegt. Af Klints Bilder haben die Fähigkeit jeden Einzelnen auf eine besondere und intime Art und Weise zu berühren.
Müller Westermann ist davon überzeugt, dass es egal ist, ob Hilma af Klint die erste abstrakte Malerin Europas ist oder ebe doch nicht. Was für sie zählt, ist die kunsthistorische Auseinandersetzung und die Sichtbarkeit ihrer Kunstwerke.

Okkultismus trifft auf Nonkonformistin

Der rote Faden, der sich durch af Klints Schaffen zieht ist die Mischung aus Abstraktion und Spiritualismus. Ein künstlerischer Stil, der nicht nur einzigartig ist, sondern der anderen abstrakten Künstlern der Moderne, wie beispielsweise Wassily Kandinsky, vorausgeht. Zugunsten ihrer männlichen Kollegen wurde die hochtalentierte Schwedin bis zu ihrem unerwarteten Durchbruch im Moderna Museet weitgehend ignoriert. Heute folgt Ausstellung nach Ausstellung. Mit stetigem Erfolg. Bis April 2019 lief eine weitere Retrospektive im angesehenen Museum Guggeheim in New York City, die Hilmas atemberaubende und farbenfrohe Arbeit wieder ins Rampenlicht gerückt hatte.
Hilma selbst sah sich als Mystikerin und machte keinen Hehl daraus, dass der Spiritualismus ihre Kunst tief prägte. Tatsächlich war das enorme Interesse an Okkultem und an Transzendenz um 1900 in der europäischen Gesellschaft weitverbreitet und durchaus nicht bloß ein Spleen eines Sonderlings. Bereits im zarten Alter von 18 Jahren wandte sich af Klint der spirituellen Seite zu. Womöglich kann dies an dem prägenden Erlebnis des frühen Tods ihrer Schwester liegen. Hilma beschäftigte sich intensiv und viele Jahre mit der Philosophie des österreichischen Esoterikers Rudolf Steiner und besuchte die anthroposophische Gesellschaft in den 1920er mehrmals in deren Hauptquartier in der Schweiz. Als sie ihrem Vorbild Steiner ihre Arbeiten zeigten, wurde sie jedoch von ihm enttäuscht. Er hatte nur negative Kritik für sie übrig. Eine große Kränkung für Hilma: sie wand sich von der Anthroposophie ab und malte vier Jahre lang kein einziges Bild.
Nach dieser Auszeit isolierte sich Hilma af Klint bewusst von der modernistischen Kunstbewegung jener Zeit und ging gestärkt und selbstbewusst ihren eigenen Weg. Diese Entscheidung trug maßgeblich dazu bei, dass der Spiritualismus der bestimmende Treiber ihres Schaffens wurde. In Schweden war Hilma als Künstlerin anerkannt, obgleich sie zeitlebens ihre eigene Arbeit aktiv von ihrer klassischen Ausbildung distanzieren wollte. Mit dem Verkauf konventioneller Malerei, Porträts und Landschaften, verdiente sie sich jedoch ihren Lebensunterhalt.

Die unkonventionellen Fünf

Als Gründerin und Mitglied von „Den Fem″ (zu deutsch: Die Fünf), einer Gruppe von Künstlerinnen, die sich für Spiritualismus interessierten und wöchentlich, immer freitags, Séances hielten, konnte Hilma af Klint ihre Leidenschaft nicht nur in ihrer Kunst ausleben, sondern auch privat und in Gemeinschaft mit Vertrauten. Die Frauen waren sich sicher, dass sie Nachrichten von Geistern erhalten, die sie „Hohe Meister“ nannten und zeichneten diese Visionen in einem gemeinsamen Buch auf. Hilma af Klint war also keineswegs eine isolierte oder einsame Person, wie ihr oftmals fälschlicherweise zugeschrieben wird. „Die Fünf″ war ein außerordentlich bedeutender Teil ihres sozialen und künstlerischen Lebens. Der Mythos der Isolation und Einsamkeit beruht meist auf Hilmas unkonventionellen Art als Privatmensch und Malerin und brachte ihr auf diese Weise den Mythos der Einsamkeit und Isolation ein. In Wahrheit aber inspirierte und beeinflusste sie viele Menschen in ihrem Leben und liebte den geistigen Austausch.
Und auch heute noch schöpft die Popkultur aus den unendlichen Tiefen ihrer Kunst und Person. Zu den Filmen und Musikstücken, die das Werk der Schwedin behandeln, gehören der Hollywoodstreifen „Personal Shopper“ mit der berühmten Schauspielerin Kristen Stewart sowie das Album Modern Kosmology der britischen Sängerin Jane Weaver.

Gut Ding will Weile haben

1970 wurde die gesamte Sammlung Hilma af Klints von ihren Erben dem Moderna Museet als Geschenk angeboten. Das Museum lehnte damals ab. War die Zeit noch nicht reif für Hilmas Bilder? Hilma selbst prophezeite in ihrem Testament, dass die Welt nicht bereit für sie und ihre Visionen sei und hielt fest, dass ein Großteil ihrer Arbeit erst 20 Jahre nach ihrem Tod der Öffentlichkeit gezeigt werden soll. Die kinderlose Malerin überließ alles ihrem Lieblingsneffen. Sie wies ihn an alle Kisten – voll mit ihrem visionären Kunstschatz – erst nach Ablauf der vorgeschriebenen Zeit zu öffnen. Weit in den späten 1960er Jahren wurden die Arbeiten tatsächlich zum ersten Mal enthüllt. Jedoch erlangten die außergewöhnlichen Werke erst später die gebührende Aufmerksamkeit. 1984 präsentierte sie der Kunsthistoriker Åke Fant. Bald darauf im Jahre 1986 wurden die Malereien zwar in einer Ausstellung in Los Angeles gezeigt, aber nur langsam und zögerlich wurde Hilma af Klint zu einem bekannten Namen in der Kunstszene. Der wahre Durchbruch gelangte ihr Jahrzehnte später: Die Hilma af Klint Foundation, die ihr Erbe überwacht, verkaufte Anfang 2018 eine erste Sammlung ihrer Werke an das Moderna Museet. Das renommierte Museum widmete ihr sogleich einen eigenen Raum im Ausstellungsgebäude.

Bodenständig und exzentrisch

Einer der gewagten Träume der Hilma af Klint hatte keine konventionellen Träumen: Eines ihrer gewagtesten Ideen war der Bau eines spiralförmigen Tempels. Wie ihr schien, sei nur dieser der angemessene Ort, um ihre Arbeiten zu zeigen. Leider kam es nie zu Verwirklichung. 2019 schmückte das Guggenheim in New York City in einer poetischen Geste die Wendeltreppe im Gebäude des Museums mit af Klints Arbeiten – als eine Art später Stellvertreter für ihren unerfüllt gebliebenen Traum.
Die klassisch ausgebildete bildende Künstlerin absolvierte ihr Studium an der angesehenen Akademie der bildenden Künste in Stockholm mit Bravour und Lob der Professoren. Sie studierte hauptsächlich Zeichnung, Porträt und Landschaftsmalerei. Obwohl Hilma mit ihrer akademisch anerkannten Technik nach dem Abschluss Geld verdiente, wollte sie die klassischen Stile, die sie an der Kunstschule erworben hatte, hinter sich lassen – am besten sogar verlernen. Stattdessen entwickelte sie ihr eigenes Konzept und nannte es „automatisches Zeichnen“: Sie wollte zeichnen, ohne dass ihr Bewusstsein den Malprozess leitete. Interessanterweise wurde später in der surrealistischen Bewegung (einschließlich des Dadaismus) eine ähnliche Technik angewendet.
Die ehrgeizige und eigensinnige Schwedin übte fortan das automatische Zeichnen verließ nach und nach ihre Anfangsgefilde und erschuf ikonische abstrakte Arbeiten. Mit 44 Jahren malte Hilma af Klint ihre erste abstrakte Serie.


Für die einen war sie eine zwar talentierte, aber schrille Außenseiterin; für wiederum andere die wahre erste abstrakte Künstlerin. Fest steht, dass Hilma af Klints weitblickendes Werk von kunsthistorisch zentraler Bedeutung ist und Jahre nach deren Entstehung Menschen weltweit zu berühren vermag. Nicht umsonst schlug das norwegische Architektenbüro Snøhetta vor ein Ausstellungszentrum für Hilma af Klint zu bauen, der dazu beitragen soll, af Klints Einfluss und Erbe für die Ewigkeit lebendig zu halten.

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