Als Pionier der abstrakten Kunst bleibt dem russischen Avantgarde-Künstler Kasimir Severinovich Malevich zweifellos eine überlegene Position in der Kunstgeschichte sicher. Zusammen mit den talentiertesten Künstlern seiner Zeit (Sonya Delaunay, Vladmir Taltin, Aleksander Archipenko und Vladim Meller) führte er den Siegeszug der Abstraktion an. Russlands kulturelle Elite des frühen 20. Jahrhunderts war sich ihrer Ausnahmestellung und der gewaltigen Einschlagkraft ihrer bahnbrechenden Innovationen in Kunst und Philosophie durchaus bewusst. Selbstbewusst schrieben sie sich das Wort Suprematismus auf ihre Fahnen: Der Begriff, der sich auf dem Lateinischen ableitet, bedeutet „Überlegenheit″. Die Bewegung des Suprematismus ist eines der schonungslosesten Abrechnungen mit reaktionären Verhaltensmustern und versteiften akademischen Kunstrichtungen. Kasimir Malevich als treibende Kraft stand dabei im Mittelpunkt dieser künstlerischen Revolution, die bis heute aufstrebenden jungen Künstlern als Inspirationsquelle dient und neue Generationen dazu anspornt das so viel beschworene Rad doch immer wieder neu zu erfinden.
Als Ältester von insgesamt 14 Geschwistern von denen acht überlebten, begegnete Malevich von klein auf dem Leben in seiner vollen Wucht: ein Leben mit traurigen Enden, hoffnungsvollen Anfängen und ständigen Veränderungen. Die in jungen Jahren miterlebte ständige Gegenwart des Todes hatte Malevich dahingehend geformt, sich im Erwachsenenalter künstlerisch der Natur zu entledigen und eine Ausdrucksform zu erschaffen, die Spiritualität und Transzendenz anstrebt. Auch die Tatsache in der heutigen Ukraine geboren worden zu sein, aber ethnisch polnisch zu sein, hinterließ seine Spuren. Malevich selbst empfand eine tiefe Verbindung zu Polen. Gleichzeitig jedoch verbrachte er den Großteil seines Lebens in russischen Gebieten innerhalb einer Kultur mit der er sich ebenfalls identifizierte.
Die Einstellung, das Leben – trotz oder gerade wegen allen Steinen, die es einem vor die Füße wirft – anzupacken und mit Tatkraft und Wille zu gestalten, machte Malevich zu einer radikalen und selbstständig denkenden Persönlichkeit, mit der sich Künstler, Sammler und Intellektuelle gerne umgaben. Auf den ersten Blick erscheinen Malevichs Werke rational. Sein Konzept des Suprematismus verzichtete jedoch auf vernunftsgesteuerte Objektivität, indem es jegliche in der Natur vorkommenden Formen ablehnte und dem reinen Gefühl die Vorherrschaft zusprach. Die progressive Sichtweise des russischen Konstruktivisten machte klar, das er nichts von konservativen Kunstwerten hielt. Was er im Dezember 1915 in der Galerie Dobytschina in Petrograd (heute: Sankt Petersburg) ausstellte, sollte die Kunstwelt in seinen Fundamenten erschüttern – und für immer verändern.
Die Besucher der Gruppenausstellung mit dem Titel „0,10″ müssen ihren Kopf schräg oben an die Wandecke richten, um Malevichs Gemälde „Das schwarze Quadrat auf weißem Grund″ zu entdecken. Ein Bild, das negative, heftige Kritiken auslöste, das heute zwar legendär, aber alles andere als provokant ist. An einer Stelle im Haus an der für gewöhnlich Ikonen ihren traditionellen Platz hatten, sorgte das enfant terrible mit seinem „Viereck″ damals jedoch für einen Schock. Von den einen als „Predigt des Nichts und der Zerstörung″ beschimpft,war für andere das schwarze Quadrat auf weißem Hintergrund eine Offenbarung: Kunst kann um der Kunst willen erschaffen werden und der Künstler hat die volle Kontrolle über die Ästhetik seiner Werke – ob der Betrachter dabei visuelles Vergnügen empfindet oder nicht ist zweitrangig. Dieses scheinbar kleine Ereignis der Kunstgeschichte markiert den Durchbruch der gegenstandslosen Kunst. Malevichs Suprematismus zeichnete sich durch die Verwendung einfacher Motive aus. Insbesondere das Kreuz, der Kreis und das Quadrat waren wiederkehrende Elemente seiner Malerei.
Malevich wurde 1916 in die Armee einberufen wurde. Trotz der Umstände, ließ der produktive Künstler es sich nicht nehmen weiter zu malen, theoretische Schriften zu verfassen und unermüdlich weiter an seinen Visionen zu arbeiten. Die fruchtbaren Korrespondenzen mit Gleichgesinnten, die nicht immer mit ihm einer Meinung waren, mündeten unter der Führung von Malevich in gemeinsame suprematistische Ausstellungen. Die Aufbruchstimmung im Russland der Revolutionszeiten färbte nicht nur auf die Politik ab. Malevich selbst war von dem Wunsch nach Erneuerung und Verbesserung alter Verhältnisse überzeugt und arbeitete auf künstlerischen Wegen am neuen Zeitalter der Moderne mit.
Für alle, die Rätsel lieben, sind Malevich und seine Arbeiten genau das Richtige. Schon zu Beginn seiner künstlerischen Laufbahn legte Malevich vielseitige Interessen und einen unbändigen Elan an den Tag. Geprägt von den Bewegungen des Symbolismus, Fauvismus und Impressionismus landete er nach einem Besuch in der französischen Hauptstadt Paris im Jahr 1912 beim Kubismus. Maßgeblich an der Verbreitung avantgardistischer Kunst beteiligt, machte sich Malevich zum Ziel, die Menschen durch abstrakte Kunst zu einer neuen Spiritualität zu führen. Angelehnt an seinen Erfahrungen vereinfachte Malevich nach und nach seinen Malstil: Die Formen wurden geometrisch und die Ausführungen minimaler. Auf seinen Bildern schweben Rechtecke, Kreise, Dreiecke wie flüchtige Gedanken in undefinierten „Landschaften″ oder auf schlichten Hintergründen ohne dreidimensionaler Tiefe. Die Farbgebung ist reduziert. Sind in Frühwerken noch reale Bezüge zu erkennen, beispielsweise Personen, die auf geometrische Formen runtergebrochen wurden, sind die Malereien auf dem Höhepunkt seiner künstlerischen Muse meist völlig gegenstandslose, monochrome Ausführungen, die seine künstlerische Intention auf den Punkt bringt. Kunsthistoriker sehen im Suprematismus die Vereinigung von Kubismus und Futurismus. Oftmals wird der Suprematismus auch als Unterkategorie des russischen Konstruktivismus verstanden.
Nach der Oktoberrevolution 1917 wurden Malevich und sein Freund und Kollege, der konstruktivistische Künstler Wladimir Taitlin, von der Regierung gefördert. Dies gab der Karriere der jungen Männer einen gehörigen Schub. Da die abstrakte Kunst jedoch Jahr um Jahr immer wieder auf Missverständnis oder gar Ablehnung traf, erkannte Malevich die Dringlichkeit seine Kunstideologie der Öffentlichkeit mit seinem „Manifest des Suprematismus″ (1926) näherzubringen. Der Name „Suprematismus″ war Programm: Malevich war überzeugt, dass seine Bewegung alle bisherigen Kunststile übertreffen würde. Seine suprematistische Utopie: Leinwände und Bücher von allem alten, toten Gewicht der Welt zu befreien. Zu seinen bekanntesten theoretischen Werken gehört auch „Vom Kubismus und Futurismus zum Suprematismus″ aus dem Jahre 1915.
Auf der sechzehnten Staatsausstellung in Moskau im Jahre 1919 erhielt Malevich eine Einzelausstellung. Es folgten Einzelausstellungen in Warschau und Berlin. In der Kunstszene mit Erfolg und Anerkennung überschüttet, konnte Malevich sich zusätzlich als Lehrer an der Kunstfakultät der Universität in Witebsk, an der auch der Maler Marc Chagall eine Professur innehatte, und später an der Kunstakademie in Kiew behaupten. Von 1928 bis 1930 unterrichtete er und veröffentlichte seine Texte in der Zeitschrift Nova Generatsia (zu deutsch: Neue Generation). Politische Unruhen und Tumulte in der Ukraine zwangen den mittlerweile etablierten Avantgarde-Künstler zur Rückkehr ins heutige Sankt Petersburg. Unter der neuen Regierung Joseph Stalins fielen die progressiven Intellektuellen und somit auch die moderne Kunst in Ungnade. Aufgrund seiner ideologischen Einstellung verlor Malevich nicht nur seine Lehrposition. Auch seine Kunstwerke und Manuskripte wurden beschlagnahmt und teilweise zerstört. Schlussendlich wurde ihm jede Kunstbetätigung und das Erschaffen von Kunst verboten. Europaweit bemühten sich Kunstliebhaber die Werke der zensierten Maler und Schriftsteller zu bewahren. Die Kunstsammler George Costakis und Nikolai Khardzhiev spürten heimlich Malevichs Werke auf und trugen erheblich dazu bei, dass das wertvolle künstlerische Erbe des berühmten Konstruktivisten der Welt erhalten geblieben ist. Auf Verdacht einer illegalen Reise nach Deutschland wurde Malevich 1930 verhaftet. Um ihn zu schützen, verbrannten seine Freunde als Vorsichtsmaßnahme hastig alle Texte und Aufsätze, die sich noch in seinem Zuhause befanden. Malevich wurde für zwei Monate inhaftiert. Fünf Jahre später starb er im Alter von 57 Jahren an Krebs. Sein Grab wurde von befreundeten Künstlerkollegen mit einem schwarzen Quadrat geschmückt: eine Hommage an sein berühmtes Gemälde „Das schwarze Quadrat auf weißem Grund“, welches zu einem Symbol für Malevichs Leben und Werk wurde.
Kasimir Malevichs gegenständliche Kunst und seine Texte beeinflussten Künstler wie Lyubov Popova, El Lissitzky sowie Alexander Rodchenko, Ad Reinhardt sowie die minimalistische Kunstbewegung. Posthum veranstalteten mehrere große Museen Retrospektiven, die Malevichs bedeutendes Werk feierten:das Museum of Modern Art in New York City (1936), das Guggenheim Museum, ebenfalls in New York City (1973) und das Stedelijk Museum in Amsterdam (1989 und 2014), das im Besitz der größten Sammlung seiner Werke außerhalb von Russlands ist.