Besser spät als nie: Der Franzose Henri Rousseau wurde erst im Alter von 49 Jahren Vollzeitkünstler. Da er zuvor einfacher Angestellter beim Pariser Zollamt war, nannten ihn seine Künstlerkollegen scherzhaft „Le Douanier Rousseau“ (zu Deutsch: „der Zollbeamte“).
Malergrößen wie William-Adolphe Bouguereau und Jean-Leon Gerome waren Rousseaus persönliche Favoriten. Seine eigene Technik jedoch war amateurhafter Natur. Mit seinen ungewöhnlichen Kompositionen wurde er zum Gespött zeitgenössischer Kritiker. Doch zeitgleich feierten etablierte Künstler wie Pablo Picasso und Wassily Kandinsky den Franzosen für seine „neuen Möglichkeiten der Einfachheit“. Bewunderung rufen heute vor allem Rousseaus bekannteste Gemälde hervor. Sie zeigen Personen oder Tiere umgeben von üppiger Fauna und Flora, die an Dschungellandschaften oder den Regenwald erinnern. Interessanterweise hat Rousseau weder seine Heimat verlassen noch den Dschungel gesehen. Inspiration hinter den weltberühmten Ölmalereien waren schlicht und ergreifend Ausflüge in den Zoo und die Pariser Gärten. Trotzdem oder gerade deshalb haben seine naiven Kunstwerke eine Magie inne, die leider erst nach seinem Tod die verdiente Anerkennung erhielt.
Rousseau hatte durchaus die Absicht ein akademischer Maler zu werden. Seinen Ambitionen zu trotz wurde er stattdessen zum Inbegriff eines „naiven“ Künstlers. Mit einem Blick auf die Bilder des Franzosen, der sich das Zeichnen und Malen selbst beibrachte, wird die mangelnde akademische Ausbildung sofort ersichtlich. Unkorrekte Proportionen, die falsche Anwendung von Perspektiven sowie ein fehlendes Farbgefühl sind die dominierenden Merkmale seiner Bilder. Jedoch haben Rousseaus Werke gerade durch diese Eigenschaften ihren unverwechselbaren Stil erhalten. Eine Mischung aus Exzentrik und Unbekümmertheit umgibt die farbenfrohen Gemälde. Rousseaus Bilder sind zwar von ungebildeter Hand gemalt worden, jedoch durchdrungen von einem äußerst eigenwilligen Charakter. Dennoch wurden sie Zeit seines Lebens verspottet. Die Kritik eines französischen Journalisten machte die spöttische Handhabe mit Rousseaus Kunst wie folgt deutlich: „Monsieur Rousseau malt mit seinen Füßen und mit geschlossenen Augen.“ Entsprachen die Ölgemälde einerseits nicht dem Geschmack der breiten Masse, so waren sie andererseits laut Künstlern wie Picasso ein Vorbild für Authentizität. Moderne Künstler strebten nach dieser aufrichtigen Direktheit, die sie durch ihre akademische Ausbildung verloren hatten. Unter den anerkannten Kunstschaffenden der abstrakten Bewegung waren die sogenannten „primitiven“ Kunstformen in Mode gekommen, beispielsweise afrikanische Stammesmasken und andere traditionelle Volkskunst. Ihrer Meinung nach entstanden diese Kunstobjekte nämlich noch durch die radikalsten künstlerischen Kräfte des Menschen. Somit waren sie frei von akademischen Zwängen.
Rousseau wiederum machte sich nichts aus den Urformen der Künste – auch wenn seine Kollegen ihn in diese Schublade steckten. Im Gegenteil: Er wollte als moderner Berufsmaler bestehen und nicht als Hobbymaler abgestempelt werden. Doch seine Darstellungen traditioneller Sujets (Landschaftsmalerei, Porträt, Akt) waren zu unkonventionell für die Kunstszene.
Rousseaus Inspirationsquellen waren breit gefächert: Postkarten, Illustrationen, Skulpturen, der öffentliche Zoo und die Stadtgärten lieferten dem ambitionierten Franzosen Ideen und Motive. So findet sich eine hybride Welt von Einflüssen unterschiedlichster Art in seinen fantastievollen Bildern wieder. Besonders das bizarre Aktbild einer Frau, die sich auf einem Diwan mitten im tropischen Dschungel räkelt, begeisterte die Surrealisten seiner Zeit. Die surrealistischen Künstler mochten überraschende Gegenüberstellungen und traumhaften Inhalte. Diese dem Surrealismus zugeordneten Merkmale sind in Rousseaus Bilder zu finden. Jedoch war dies vom Autodidakten nicht beabsichtigt. Er selbst verstand sich nicht als Surrealist. Von seinen Künstlerkollegen wurde er für Dinge geliebt, die er nicht intendiert hatte und von der Presse sowie den Kunstkäufern wurde er nicht ernst genommen: Rousseau fühlte sich unverstanden.
In der Kleinstadt Laval im Norden Frankreichs wuchs der kleine Henri Julien Felix Rousseau unter bescheidenen Umständen auf. Sein Vater war ein einfacher Metallschmied, der mit finanziellen Schwierigkeiten zu kämpfen hatte. Aufgrund einer enormen Ansammlung an Schulden wurde das Familienhaus beschlagnahmt. Als Konsequenz schrieb sich der junge Henri in ein Internat ein. Abgesehen von seinen Noten in Kunst und Musik war Henri ein mittelmäßiger Schüler. Im Jahre 1861 zog er mit seiner Familie nach Angers. Dort nahm er eine Stelle als Sekretär des örtlichen Gerichtsvollziehers an. Nachdem dieser ihn des Diebstahls beschuldigt hatte, wollte Henri weitere Skandale vermeiden, indem er zum Infanterieregiment wechselte. Insgesamt sieben Jahre verbrachte er im aktiven Dienst, der größtenteils ereignislos vorüberging. Er verließ das Regiment für einen Posten in der Zollbehörde. Zu dieser Zeit begann er mit seinen ersten Skizzen und Zeichnungen. Rousseau selbst gab an, er habe sich im Alter von 40 Jahren im Jahre 1884 für eine Karriere als Maler entschieden. Im selben Jahr hatte er die Erlaubnis erhalten, im Louvre Kopien von Kunstwerken anzufertigen: Ein Privileg, das in der Regel nur akademischen Künstler vorbehalten war. Rousseaus Tätigkeit als Zollbeamter war einfach und nicht anspruchsvoll. Folglich hatte der Kunstliebhaber genügend Energie und Zeit künstlerische Arbeitsphasen einzulegen und das Zeichnen zu üben.
1868 heiratete Rousseau seine erste Frau. Clemence Boitard und er hatten mehrere Kinder. Jedoch überlebte nur die gemeinsame Tochter Julia. 1988 verstarb Clemence.
Rousseau bemühte sich vergebens um die Anerkennung der renommierten Académie des Beaux-Arts. Mehrere Ablehnungen musste der ehrgeizige Rousseau über sich ergehen lassen. Doch dies tat seiner Bewunderung für elitäre Maler wie William-Adolphe Bouguereau oder Jean-Leon Gerome keinen Abbruch. Nachdem auch der weltweit bekannte Pariser Salon seine Kunstwerke abgelehnt hatte, durfte Rousseau sich erstmals über einen kleinen Erfolg freuen. Denn 1885 stellte er mit der „Groupe des Indépendants“ (zu Deutsch: Gruppe der Unabhängigen) aus. Zu dieser Ausstellung steuerte er zwei Bilder bei, die sein Schwanken zwischen Moderne und Tradition hervorragend veranschaulichen. „Der italienische Tanz“ behandelt ein Thema, das vorwiegend akademische Künstler wählten, während das Ölgemälde mit dem Titel „Sonnenuntergang“ vom Impressionismus beeinflusst zu sein scheint.
Die Groupe des Indépendants richtete ein Jahr nach der Ausstellung einen eigenen Salon ein. An den regelmäßig stattfindenden Shows nahm Rousseau bis zu seinem Tod teil. In einem der ersten Ausstellungen des Salons beteiligte er sich mit dem Bild „Karnevalsabend“. Bereits dieses Frühwerk zeigt surrealistische Merkmale. Außerdem wies das Gemälde schon die kompositorische Anordnung auf, die Rousseau später als reifer Maler anwandte. Eines seiner bekanntesten Dschungelbilder, das ebenfalls im Salon ausgestellt wurde, ist „Überrascht! Tiger in einem tropischen Sturm“ von 1891. Rousseau berichtete von Dschungelreisen, die ihn zu diesen Malereien bewegten. Kunsthistoriker gehen jedoch davon aus, dass der französische Maler flunkerte, nicht zuletzt um vor etablierten Künstlern authentischer zu wirken. Höchstwahrscheinlich fand der eigenwillige Wahlpariser lediglich in den Stadtgärten und im Naturkundemuseum Inspirationsquellen für seine exotischen Bildmotive.
1889 fand die Pariser Weltausstellung statt. Aus Rousseaus Notizen wird klar, was für eine unschuldig anmutende und fast kindliche Begeisterung er für die Messe empfand. Seine Faszination fand Ausdruck in einem seiner Gemälde auf dem im Hintergrund die Weltausstellung angedeutet wird. Kritiker machten sich öffentlich über das 1890 entstandene Bild lustig: ein herber Schlag für den wohlwollenden Maler. Doch von seinem künstlerischen Vorhaben ließ Rousseau sich nicht abbringen. Drei Jahre später kündigte er seine Arbeitsstelle im Zollamt. Fortan widmete er sich mit ganzem Herzen seiner großen Leidenschaft. Nun kam auch seine Karriere in Schwung: Die erste positive Beurteilung über eines seiner Werke wurde 1894 in der Zeitschrift „Mercure de France“ veröffentlicht. Das Werk mit dem Titel „Krieg“ markierte einen wichtigen Wendepunkt für den Vollzeitmaler. Denn der Schriftsteller und Dichter Alfred Jarry wurde auf Rousseau aufmerksam und veröffentlichte das Gemälde in seiner Zeitung. Zudem beauftragte Jarry Rousseau mit einem Porträt, welches der ambivalente Autor in einem impulsiven Akt zehn Jahre später selbst zerstörte.
Nach jahrelanger Einsamkeit heiratet Rousseau 1898 erneut. Seine Auserwählte war die Witwe Josephine Noury. Die neue Liebe beflügelte auch seinen beruflichen Alltag. Rousseau nahm an Wettbewerben und Preisausschreibungen teil. Sein Bemühen um Anerkennung in der Kunstszene war weiterhin vergebens. Er gewann weder Preise noch die Aufmerksamkeit der Galeristen für sich. Dennoch war der eifrige Franzose eine kleine Berühmtheit mit einem gewissen Bekanntheitsgrad geworden. Er freundete sich mit avantgardistischen Künstlern an, die ihm Mut zusprachen. Zu seinen Bekannten zählten Pablo Picasso, Guillaume Apollinaire, Georges Braque und Robert Delaunay. Seine beruflich wichtigste Verbindung war indes die zu Wilhelm Uhde. Der deutsche Kunstsammler Uhde, der sich auf herausragende Außenseiter der Kunstbranche spezialisiert hatte, trug ab 1906 maßgeblich zur Förderung von Rousseaus Arbeit bei. Doch Rousseau schnitt sich selbst ins Bein, als er seine aufstrebende Karriere mit einem Schlag ins Wanken brachte: 1907 wurde er wegen Bankbetrugs inhaftiert. In Briefen an den Richter bittet ein verzweifelter Rousseau mit maßlosen Übertreibungen seiner Verdienste um seine Freilassung.
Trotz der öffentlichen Blamage gab Wilhelm Uhde seinen Schützling nicht auf. Zuversichtlich organisierte er Rousseaus erste Einzelausstellung – ohne Erfolg. Kaum jemand interessierte sich dafür. Picasso munterte Rousseau auf, indem er ihm ein Frauenporträt von 1985 abkaufte und ihm zu Ehren eine Feier veranstaltete. Bekannte Gäste wie Gertrude Stein berichteten würdigend über die legendäre Party. Demnach saß Rousseau auf einem improvisierten Thron – ein Stuhl auf einer großen Packkiste – und unterhielt die Partygäste mit Scherzen und Musik. Endlich sah sich der gesellige Rousseau von befreundeten Künstlern wertgeschätzt. Die öffentliche Wertschätzung wiederum blieb ihm für den Rest seines Lebens verwehrt. Er lebte in Armut und diente der Kunstwelt als Witzfigur. Schwer krank und vereinsamt starb Rousseau 1910 im Alter von 66 Jahren an einer infizierten Beinwunde.