Der österreichische Maler Egon Schiele und seine expressionistischen Zerrbilder der Sexualität
Figurale Verzerrungen und die selbstbewusste Missachtung jeglicher Schönheitsnormen machen den kühnen und grafischen Stil des Künstlers Egon Schiele unverkennbar. Als einer der führenden Maler des österreichischen Expressionismus nahm er in seinen Porträts und Aktmalereien auf einzigartige Weise die menschliche Sexualität und die Tiefen der Psyche unter die Lupe. Diese erotisch sowie psychologisch aufgeladenen Gemälde gehören zu den ungewöhnlichsten Kunstwerken des frühen 20. Jahrhunderts. Durch sein ausschweifendes Leben und zahlreiche Skandale erhielt der junge Künstler den Ruf des Provokanten der hiesigen Kunstszene. Jedoch war dem aufsteigenden Star Österreichs eine lange und kommerzielle Karriere verwehrt. Auf der Höhe seines Erfolgs starb Schiele im Alter von 28 Jahren an der Spanischen Grippe. Zeitgleich erlag auch seine schwangere Ehefrau dem Grippetod. Dennoch war seine kurze Schaffenszeit erstaunlich produktiv. Egon Schiele hinterließ eine Fülle an bemerkenswerten Bildern, die bezeichnend für den künstlerischen Aufbruch in die Moderne sind. Die gnadenlose und voyeuristische Erotik seiner Werke haben heute noch wegen ihrer provokativen Substanz eine unvergleichliche Anziehungskraft.
Verzerrungen und Verrenkungen
Auf vitale Art und Weise erschuf Egon Schiele eine Bandbreite an Werken, die emotionale Klarheit und die sexuelle Eindeutigkeit in beispiellosem Maß wiedergeben. Seine Lieblingsthemen Sexualität, Liebe und Zwischenmenschlichkeit brachte der Österreicher bevorzugt in den Gattungen Selbstporträt und Porträt zum Ausdruck. Nur so sah er sich imstande die Unmittelbarkeit der existenziellen Emotionen, die er selber auch durchlebte, auf Papier zu bringen. Auf seinen Gemälden zeigte er offenkundig, was er von den Moralvorstellungen und akademischen Regeln seiner Zeit hielt: Seine Darstellung von verzerrten und fehlenden Gliedmaßen sowie seine Vorliebe für unrealistische Hauttöne in Grün und Rot brechen mit den Konventionen aller traditionellen Schönheitsideale. So zeigen sich seine Porträtierten halb entblößt oder vollständig nackt und freizügig in schier unmöglichen Verrenkungen und beunruhigenden Perspektiven. Schieles Modelle waren in der Regel enge Freunde und nahe stehende Menschen. Außerdem machte er sich selbst häufig zum Hauptmotiv seiner Werke – ebenfalls meistens nackt und mit eindringlichem Blick auf den Betrachter. Die in Porträts üblicherweise dargestellten Nebenattribute fehlen bei Schiele, sodass sich die Betrachter gezwungen sehen ihre Aufmerksamkeit nur auf den oder die porträtierten Menschen im Bild zu konzentrieren.
Klimts Einfluss
Inhaltlich legte Schiele einen ähnlichen Fokus auf Frauen und Erotik wie sein Mentor und Freund Gustav Klimt. Der ältere und berühmte Maler und der junge Egon Schiele teilten einen unersättlichen sexuellen Appetit, der ihre Kunst stark beeinflusste. Als Gegensatz zu Klimts schimmernden, bunten Oberflächen und ausgefeilten Darstellungen weiblicher Formen, die den europäischen Jugendstil maßgeblich geformt hatten, suchte der emotional unerfahrenere Schiele mit großem Eifer nach malerischen Methoden, mit denen er das Innenleben seiner Porträtierten darlegen wollte. Diese oftmals beunruhigenden und intensiven Einblicke in die Seele wurden zu seinem expressionistischen Idiom. Wie Allegorien über die menschliche Existenz präsentieren sich die intimen Bilder. Über dreitausend Zeichnungen zeugen von Schieles Ehrgeiz die psychologischen und emotionalen Seinsweisen festzuhalten. In der Tat betrachtete er das Zeichnen als seine stärkste Fähigkeit mit der er sich seit früher Kindheit mit außergewöhnlichem Fleiß auseinandersetzte. Als Kunstform schätzte Schiele die Zeichnung aufgrund der Möglichkeit unmittelbare Ausdrücke und Eindrücke zu manifestieren. Ähnlich wie in seinen grafischen Arbeiten zeigt auch sein malerisches Œuvre bestimmte Merkmale, die sich wie ein roter Faden durch seine Bilder ziehen. Allen gleich ist ist zum Beispiel eine dunkle Symbolik. Formell stechen besondere die Betonung der Kontur und eine gewisse Linearität markant hervor.
Wurzeln
In einer kleinen, österreichischen Stadt namens Tulln an der Donau wuchs Egon Schiele in bescheidenen Verhältnissen auf. Der Vater arbeitete als einfacher Bahnhofsvorsteher bei der österreichischen Staatsbahn und verstarb früh an Syphilis. Die Mutter war böhmischer Herkunft. In ihrer ursprünglichen Heimat Český Krumlov (zu Deutsch: Böhmisch Krumau) in der Tschechischen Republik befindet sich heute das Egon Schiele Art Zentrum, das hauptsächlich Originalwerke des Künstlers ausstellt. In Krumau hielt sich der Künstler zeitweise auch auf. Mit seiner jüngsten Schwester Gerti war er am engsten verbunden. Genau wie seine anderen Schwestern Elvira und Melanie standen sie ihrem Bruder oft Modell. Melanie heiratete später Schieles guten Freund und Malerkollegen Anton Peschka.
In der Schule war Egon unmotiviert und aufrührerisch. Doch sein Kunstlehrer fand im rebellischen und unproduktiven Schüler ein natürliches Talent für das Zeichnen und förderte seinen Schützling. Von ihm ermutigt, schrieb Schiele sich nach dem Schulabschluss an der Akademie der Bildenden Künste in Wien ein, die einen exzellenten Ruf genoß. Ein berühmter, ehemaliger Student der renommierten Kunstakademie ist der Jugendstil-Maler Gustav Klimt.
Eigene Wege gehen
1907 begegnete ein junger Schiele dem Vorzeige-Künstler Wiens: Gustav Klimt. Tatsächlich hatte sich Schiele selbst um ein Treffen mit dem Star der damaligen Kunstszene bemüht. Die Bewunderung des jungen Mannes imponierte dem bereits etablierten Maler. Schnell bildeten die beiden Querdenker eine Meister-Schüler-Beziehung, welche Schieles weitere Entwicklung stark prägte. Klimt beeinflusste seinen neuen Freund nicht nur im Bereich der Malerei. Außerhalb des Ateliers machte er Schiele mit Mäzenen und Frauen bekannt, die ihm künftig beruflich Modell standen. Zusätzlich nahm Klimt ihn in die Wiener Werkstätten, die als Kunstgewerbestätten der Bewegung der Wiener Secession tonangebend in der Kunstwelt Wiens waren. Zeitgleich beschäftigte sich Schiele eingehend mit den Werken bekannter Künstler, darunter Edvard Munch, Jan Toorop und Vincent van Gogh. Zuvor hatte der Wiener – angesichts der Isolation Österreichs von den avantgardistischen Bewegungen Europas – relativ wenig Gelegenheit gehabt die prominenten Werke der Kunstschaffenden jener Zeit kennenzulernen.
Als 18-Jähriger präsentierte der engagierte Student Schiele zum ersten Mal öffentlich seine Bilder in einer Gruppenausstellung in der Provinz nördlich von Wien. Ein Jahr später verließen mehrere unzufriedene Studenten die Kunstakademie als Protest gegen die konservativen Ansichten und Lehrmethoden der traditionsreichen Institution. Unter den rebellischen Studenten befand sich auch der freiheitsliebende Schiele. Als Konsequenz gründete er gemeinsam mit den Gleichgesinnten die „Neue Kunst Gruppe“, die sich zukunftsorientiert und europäisch ausrichtete. Um keine Zeit zu verlieren, veranstaltete die Truppe von ehemaligen Studenten gleich mehrere Ausstellungen in der ganzen Hauptstadt. Hier zeigte Schiele erstmals Werke auf denen er mit gezackten Linien, einer düsteren Farbpalette und Verzerrungen experimentierte. Die neue malerische Ausdrucksform hob ihn deutlich von den anderen ausgestellten Malern ab, die im Gegensatz zur Schiele Anhänger des harmonischen und dekorativen Jugendstil waren. Im Laufe dieser Entwicklungen wurde zunehmend deutlich, dass sich der Schüler Schiele allmählich von seinem Mentor Klimt löste. Obwohl dieser Bruch eine künstlerische Distanz in die Beziehung der zwei Männer brachte, blieben sie einander bis zu Klimts Tod im Jahre 1918 nahe.
Sex und Skandale
Schon kurz nach der Gründung seiner Kunstgruppe konnte Schiele bescheidene Erfolge feiern. Seine erste Einzelausstellung in der Galerie Miethke in Wien trug zusätzlich zu einem gewissen negativen Bekanntheitsgrad bei. Denn Publikum und Presse reagierten empört auf Schieles immer populärer werdenden Zeichnungen und Malereien. Allesamt zeigten die Werke eine Neigung zur Sexualisierung und anzügliche Frauenakte, die aus der Zeit fielen. Das sittsame frühe 20. Jahrhunderte tabuisierte alles Sexuelle. Doch für Schiele waren die zahlreichen negativen Äußerungen in fünf großen, österreichischen Zeitungen nichts anderes als gute PR. Die Kritik an dem Inhalt seiner Bilder war eine fruchtbare Werbung für den jungen Künstler, der sich dessen sehr bewusst war. Während die Gesellschaft den Maler skandalisierten und als obszön beschimpften, kauften mehrere private Sammler die expliziten Werke auf.
Doch Schieles grenzüberschreitende Praxis, Kinder und Jugendliche in seinem Atelier nackt zu porträtieren, ging selbst hartgesottenen Kunstliebhabern zu weit. Bis heute ist umstritten, ob es sich dabei um rein künstlerische Provokation oder Missbrauch von Minderjährigen handelte. Sicher ist nur das die breite Ablehnung dieser Werke Schiele nicht davon abhielt seinen Kurs beizubehalten – bis es zur Anklage gegen ihn kam. Schließlich verurteilte das Gericht Schiele dafür, Kinder erotische Bilder vorgesetzt zu haben und die Anklage auf mutmaßliche Vergewaltigung eines 12-jährigen Mädchens wurde fallen gelassen.
Um der gesellschaftlichen Hetzjagd in seiner Heimat zu entgehen, stellte Schiele ab 1912 bevorzugt außerhalb von Wien aus. Nachdem er sich durch die Präsenz in Budapest, Paris und Köln europaweit einen Namen gemacht hatte, lud die progressive Münchner Galerie Hans Goltz den österreichischen Maler ein an einer großen Gruppenausstellung mitzuwirken. Gemeinsam mit den wegweisenden Werken der Expressionisten der Kunstgruppe „Der Blaue Reiter“ (Franz Marc, Alexej von Jawlensky und Wassily Kandinsky) bot diese Ausstellung Schieles bisher größte Werkschau an. Das Publikum bekam eine Palette an reicher Allegorie und dunkler Symbolik zu sehen, unter anderem sein bekanntestes Selbstporträt mit dem Titel „Selbstbildnis mit chinesischer Laternenpflanze“ von 1912. Diese einnehmende Studie zeigt einen selbstbewussten Schiele, der stolz aus dem Gemälde blickt und den Betrachter direkt ansieht. Dabei sind seine Gesichtszüge subtil deformiert und voller Narben und Linien.
1915 beabsichtigte Schiele „vorteilhaft zu heiraten“, wie er in einem seiner Briefe an eine Freundin betonte. Die Auserwählte Edith Harms war in der Tat von gutem sozialem Stand. Trotz des Heiratsantrags beabsichtigte Schiele seine Beziehung zu seiner Freundin Wally Neuzil fortzusetzen, die ihn jedoch wegen seiner Verlobung verließ. Sexuelle Freizügigkeit und Morbidität seines Privatlebens übertrug Schiele direkt auf sein Werk. So verwundert es dann doch, dass er während seinem Militärdienst vorrangig Stadt- und Landschaftsansichten produzierte.
Nach dem militärischen Einsatz wollte sich der Maler wieder auf sein Liebesleben und seine Kunst konzentrieren. Doch die in Europa grassierende Pandemie kostete Schiele und seiner schwangeren Frau das Leben. Im Oktober 1918 starb Edith an der spanischen Grippe. Schiele fertigte eine Reihe von Skizzen seiner im Sterben liegenden Frau an. Drei Tage später erlag der Künstler selbst im Alter von 28 Jahren seiner Krankheit.
Trotz einer viel zu kurzen Schaffensperiode hinterließ Egon Schiele eine erstaunlich große Anzahl an Werken auf Papier und Leinwand. Die Ästhetik seiner Bilder beeinflussten Zeitgenossen wie Oskar Kokoschka ebenso wie verschiedene Nachfolger des Expressionismus, darunter Julian Schnabel, Jean-Michel Basquiat sowie Francis Bacon.