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Nihonga – Die japanische Kunstbewegung, die Europa verzauberte

Shimomura Kanzan - Yoroboshi, Tokyo National Museum, Japan

Nihonga – Die japanische Kunstbewegung, die Europa verzauberte

Während sich Japan in der Meiji-Zeit zum ersten Mal wieder für Wirtschaft und Handel öffnete, kam es auch in anderen Gesellschaftsbereichen zu einer tief greifenden Transformation. Aus dem Feudalstaat wurde durch die Meiji (zu Deutsch: aufgeklärte Herrschaft) eine imperiale Großmacht. Die Ära umfasste den Zeitraum 1868 bis 1912, das Todesjahr des Kaisers. Als direkte Reaktion auf die moderne Offenheit der Nation, entwickelte sich eine neue Kunstbewegung: Nihonga, was „japanische Malerei“ bedeutet.
Der Vorstoß der Moderne rief in den Nihonga-Künstlern das Bedürfnis hervor, die traditionellen Techniken der historischen japanischen Malerei zu bewahren. Zwar huldigten die Künstler mit dieser Wiederbelebung der Traditionen die eigene Vergangenheit, ließen sich jedoch auch bereitwillig auf künstlerische Einflüsse aus dem Ausland ein. Dennoch war die prägende Idee hinter Nihonga, die über tausend Jahre alte japanische Maltradition weiterzuführen, um sich von dem westlichen Stil (japanisch: Yōga), der im damaligen Japan immer bekannter und beliebter wurde, zu unterscheiden. Indem die Nihonga-Künstler den japanischen Stil bevorzugten, bekämpften sie die Übernahme westlicher Stile und hoben somit aktiv und stolz die Schönheit und die Bedeutung ihrer heimatlichen Traditionskunst hervor.

Die Wurzeln

Nihonga ist der allumfassende Begriff für klassische japanische Malerei, die das Spektrum der Bildinhalte mit einer modernen Themensprache erweiterten. Zusätzlich nutzten Nihonga-Künstler unterschiedliche Elemente aus einer Vielzahl altbewährter Stile und Techniken.
Nach einer kurzen Zeit des Widerstandes nahmen die traditionsbewussten Maler schließlich Aspekte der westlichen Künste in ihre Arbeit mit auf. Übernommen wurden beispielsweise Elemente aus dem Naturalismus, die Ölmalerei sowie die Gesetze der Perspektive. Das Ziel der der Nihonga-Künstler war jedoch, den klassisch verwendeten Materialien und Methoden ihrer Vorfahren treu zu bleiben.
Japan hatte seither eine ambivalente Beziehung zu ausländischen Künsten: Zeiten, in denen der westliche Malstil stark betont wurde, wechselten mit Perioden, in der die eigenen Stile dominierten. Dieser stetige Wechsel ist auch typisch für Japans allgemeine Herangehensweise an die Außenwelt.
Mitte des 7. Jahrhunderts entstand in Japan erstmals eine Art der Malerei, die als eigenständige japanische Malerei in die Kunstgeschichte einging. Hauptsächlich wurden die Werke der Japaner der Nara-Zeit (710-794) von der chinesischen Tuschemalerei und dem Stil der Tang-Dynastie beeinflusst. In der Heian-Zeit wurden lange, bemalte Handrollen populär. Die Japaner nannten ihre Kunst Yamato-o. Aus Yamato-o entwickelte sich während der Edo-Ära (1603-1868) Ukiyo-e. Berühmte Beispiele dieses Stils zeigen – ebenfalls auf Schriftrollen – unterschiedliche Alltags- und Freizeitszenen. Zeitgleich veranlasste die Verbreitung von Holzschnitten eine Abkehr von klassischen Malmethoden. Der einfache Grund dafür war, dass die Holzbilder Kunst auf kommerzielle Art und Weise für die Masse zugänglich machte.

Erzwungene Öffnung Japans und Konsequenzen auf die Künste

Das Ende der Edo-Ära besiegelte 1853 die gewaltsame Forderung der USA nach einem liberalen Handelsabkommen. Japan erlag dem überlegenen Militär der westlichen Großmacht. Da Japan mehrere Jahrhunderte konservative Grenzgesetze pflegte, brachte der invasive Zwang zur Öffnung auch in der Kunstwelt große Spannungen hervor. Durch die Meiji-Regierung wurde das Ziel verwirklicht, Japan in den Bereichen der Künste und der Kultur nach dem Vorbild der westlichen Welt zu modernisieren. Fortan bestand ein künstlerischer Austausch zwischen westlichen Ländern und Japan. Unter dem Namen Japonismus eroberten Drucke der Ukiyo-e-Ära als erfolgreiche Exporte den europäischen Markt. Vor allem in Frankreich lösten die fernöstlichen Designs eine Begeisterungswelle für alles Japanische aus. Der Reiz einer exotischen und für viele Menschen unerreichbaren Welt kurbelten den Hype um die japanische Kunst an. Der niederländische Maler Vincent van Gogh ist nur einer unter vielen berühmten Künstlern, die sich vom Trend der Zeit mitreißen ließen und Werke nach dem Vorbild der Japaner entwarfen. Doch auch japanische Künstler wurden nicht minder beeinflusst von ihrem neuen Wissen über die westlichen Stile und Techniken. Schuld daran war auch die Meiji-Regierung, die aktiv das Studium und die Verbreitung der westlichen Künste förderte. Zu diesem Zweck wurden neue Kunstschulen gegründet und renommierte Künstler eingeladen, die den japanischen Studenten die westliche Kunst näherbringen sollten. Zur großen Enttäuschung vieler japanischer Künstler und Kunstliebhaber ersetzten diese modernen Schulen die traditionellen Kunstschulen, an denen einst angesehene Meister unterrichteten.

Die gleichberechtigte Fusion zweier Welten

Als Widerstand gegenüber den Modernisierungsmaßnahmen der Regierung bildete sich die Bewegung Nihonga heraus. Erstmals verwendete im Jahr 1882 der Harvard-Absolvent Ernest F. Fenollosa, der an der Imperial University in Tokio westliche Philosophie lehrte, den Begriff in seiner Vorlesung mit dem Titel „Die neue Kunsttheorie“. Obgleich Fenollosa die Bemühungen der Zusammenarbeit und des Austausches schätzte, befürwortete er die Idee, die historische Kultur Japans zu bewahren. Die westlichen Einflüsse sollten seiner Meinung nach lediglich als Bereicherung und Inspiration dienen. Der US-Amerikaner plädierte dafür, die traditionellen japanischen Künste mit Ideen der westlichen Welt zu bereichern, anstatt sie komplett zu ersetzen.
Nach Fenollosa definieren folgende Elemente die historische japanische Malerei: keine Schatten, kein Realismusbestreben, Verwendung von Konturen und einer reduzierten Farbpalette, einfacher Ausdruck. Mit diesen Stilelementen arbeiteten auch die Nihonga-Künstler. Mit Pigmenten auf Mineralbasis und einem Bindemittel namens Nikawa malten sie – ihren Vorfahren gleich – vorwiegend auf Schriftrollen. Inhaltlich beschäftigten sich die Nihonga-Maler mit Landschaftsthematiken und das Darstellen von Vögeln und Pflanzen sowie Szenen aus der eigenen Kulturgeschichte. Ebenfalls waren Gemälde schöner Frauen, sogenannte Bijin-Ga, beliebte Sujets.
Okakura Kakuzō, ein talentierter Schüler und Assistent Fenollosas, wurde zu einem wegweisenden Nihonga-Theoretiker. Mithilfe der Förderung durch die japanische Regierung war die Kunstbewegung Yōga aufgestiegen. Für Fördermittel waren nur Künstler vorgesehen, die sich westliche Stile und Malweisen, beispielsweise die Ölmalerei, angeeignet hatten. Zusammen mit seinem einstigen Lehrer Ernest F. Fenollosa suchte Okakura Kakuzō nach angemessenen Möglichkeiten die Nihonga-Maler zu unterstützen und ihre Bewegung populär zu machen. Sie standen damit in direkter Opposition zur Regierung und vertraten eine gleichberechtigte Auffassung der Künste, in der keine der anderen überlegen war. Die talentierten Denker gründeten zuerst „Kangakai“, das auch Painting Appreciation Society genannt wurde. 1889 folgte die Gründung des Tokyo Art Institute. Die in Tokio beheimatete Nihonga-Bewegung breitete sich rasch nach Kyoto aus. Führende Meister waren Kanō Hōgai und Hashimoto Gahō aus Tokio und Takuichi Seiho aus Kyoto.

Die Malerei der Behutsamkeit

Da die Nihonga-Künstler den Stil der alten Meister der Yamato-e-Ära anstrebten, verwendeten sie genauso wie ihre Vorbilder ein aquarellähnliches, mattes Finish. Auf den Bildern sind die Pinselstriche kaum erkennbar. Mit Simu-Tinte betonten sie die Linien und Konturen der dargestellten Personen und Objekte. Als Kunstform, die sich selbst der Spontanität verschrieben hat, enthüllt ein Nihonga-Bild den Geist des Künstlers im Augenblick des Malprozesses. Da die Maler strikt darauf achteten nur echte traditionelle Materialien und Werkzeuge zu nutzen, skizzierten sie erst auf Seide oder Papier vor. Der Maluntergrund aus Seide unterschied sich von der, die für Kleidung verwendet wurde. Um andere Oberflächeneffekte zu erzielen, wurde Papier aus unterschiedlichen Baumarten angefertigt.
Nach dem Vorzeichnen wurde die Skizze mit Sumi-Tinte umrissen. Sumi-Tinte ist eine Mischung aus Gelatine oder Leim und Lampenschwarz. Bevor die Hintergrundfarbe angewendet wurde, wurde die Oberfläche der Gemälde mit Kofun (Kreide) bedeckt. War der Hintergrund trocken, fügte der Nihonga-Künstler wenige weitere Farben hinzu, um das Bild fertigzustellen. Die unterschiedlichen Pinsel bestanden aus Tierhaaren. Alle Materialien wurden vorsichtig und behutsam verarbeitet. Hauptsächlich verwendeten die Maler Mineralien, die unterschiedlich fein gemahlen wurden. Dies erzeugte unterschiedliche Intensitäten der Farben. Beispielsweise wurde die Farbe Weiß aus Muscheln und Austernschalen hergestellt, die zerkleinert und pulverisiert wurden. Nutzung und Verarbeitung der Muscheln waren streng gehütete Geheimnisse unter den Künstlern und Schulen. Als Bindemittel wurde aber immer – unabhängig von Pigment und Verarbeitung – Nikawa vermischt. Feines Gold, Silber oder Platin setzten die Maler häufig für Hintergründe ein, um dekorative Effekte in das Bild zu integrieren. In diesen Fällen wurden die zu Feinstaub gemahlenen Metalle direkt auf die Seide aufgetragen. Ganz in der kontemplativen Haltung der fernöstlichen Kultur, war auch der Malprozess im Nihonga-Stil von bedachter Sorgfalt und Ruhe durchdrungen. Die handwerklichen Aspekte waren für die Nihonga-Maler ebenso Bestandteile des künstlerischen Prozesses wie das Malen und Vorskizzieren.
Die Nihonga-Bewegung hatte es geschafft bis heute relevant zu bleiben und ist nach wie vor eine angesehene Kunstrichtung.

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