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Die expressionistische Bewegung „Der Blaue Reiter“: Durch Kunst zur spirituellen Transzendenz

Marc Franz - Deer in a Monastery Garden

Die expressionistische Bewegung „Der Blaue Reiter“: Durch Kunst zur spirituellen Transzendenz

Im frühen 20. Jahrhundert begann in München einer der bekanntesten Pionierbewegungen des Expressionismus in Deutschland. Unter dem malerischen und geheimnisvollen Namen „Der Blaue Reiter“ vereinten sich mehrere abstrakt malende Künstler, die sich stark von dem figurativen Stil der zeitgleich agierenden Dresdner Künstlergruppe „Die Brücke“ unterschied. Im Sinne des Zeitgeists beschäftigten sich die jeweiligen Gruppenmitglieder inhaltlich hauptsächlich mit dem entfremdeten Menschsein in einer zunehmend modernen Welt. Im Gegensatz zu den Brücke-Malern, die das Alltägliche und Sichtbare in ihren Gemälden darstellten, ging „Der Blaue Reiter“ einen Schritt weiter: Die Anhänger vertraten mit Überzeugung die Vorstellung, die Kunst habe in erster Linie einen spirituellen Wert. Vor allem die Maler Franz Marc, Gabriele Münter und Wassily Kandinsky gaben selbstbewusst den theoretischen Ton der Gruppe an. Aufgrund der Tatsache, dass sowohl gebürtige Deutsche als auch russische Einwanderer zu den Zentren der expressionistischen Bewegung gehörten, veranstaltete „Der Blaue Reiter“ zahlreiche Wanderausstellungen. Dabei stellten neben den eigenen Mitgliedern auch Vertreter des Kubismus und Fauvismus sowie in Russland lebende Künstler aus. Dieser Internationalismus machte die frühe Avantgarde zu einer treibenden Kraft in der Förderung der europäischen Malerei.

Blaue Reiter und gelbe Pferde

Obgleich Kandinskys Abhandlung „Über das Geistige in der Kunst“ von 1910 kein offizielles Manifest der Gruppe war, finden sich darin einige der allgemeinen Leitprinzipien der Blauen Reiter wieder. Gemeinsam strebten sie vor allem nach gegenstandsloser Malerei. Diese Art der Abstraktion sollte später die Kunst in ganz Europa und selbst in den Vereinigten Staaten von Amerika maßgeblich beeinflussen. Im Mittelpunkt stand die Idee, dass Form und Farben universell geltende und spirituell eindeutige Charaktereigenschaften innetrugen. Dementsprechend resultierte der radikaler Schritt in Richtung abstrakte Malerei teilweise aus dem Glauben an die festgelegten Werte der Farb- und Formelementen in den Gemälden. Am markantesten wird dies in der Praxis an dem Auftragen von unnatürlichen, nicht realistischen Farben auf Objekte und Menschen ersichtlich, beispielsweise eine gelbe Kuh oder – ein Reiter, der blau ist. Der Name der Gruppe bezog sich bewusst auf die Farbe Blau. Laut Kandinskys und Marcs Farbenlehre ist Blau die Farbe der Spiritualität. Der Reiter wiederum symbolisiert die Fähigkeit, sich in der Spiritualität und über diese hinaus zu bewegen.

Die Anfänge des Blauen Reiters: Die Neue Künstlervereinigung München (NKvM)

Hauptgründer der neuen Kunstopposition war der russische Maler Wassily Kandinsky. Zusammen mit Gleichgesinnten, die teilweise später auch Anhänger von „Der Blaue Reiter“ wurden, formte der Visionär die „Neue Künstlervereinigung München“ (NKvM), zu der der Deutsch-Amerikaner Adolf Erbsloh, die Deutschen Alexander Kanoldt und Gabriele Munter sowie Kadinskys Landsleute Marianne von Werefkin und Alexej von Jawlensky gehörten. Die verschiedenen Charaktere teilten einen ähnlichen expressionistischen Stil, der Merkmale der um die Jahrhundertwende populär gewordenen Richtungen des Symbolismus und des Fauvismus ausweist.
Frühen Einfluss auf die Vorgehensweise der NKvM hatte die Brücke-Gruppe aus Dresden, die den Kunstmarkt Deutschlands ab 1905 bis 1913 stark prägte. Malerisch unterschieden sich die Gruppierungen jedoch enorm. Während die Brücke-Künstler grelle und lebendige Farben verwendeten, die ihren vereinfachten Figuren emotionale Bedeutungen zuwiesen, gingen Kandinsky und seine Freunde einen Schritt weiter. Sie verstanden Farben nicht nur als bloße Gefühlsvermittler, sondern als Repräsentanten von transzendenter Wirkung.
Ein weiterer Unterschied zwischen den Bewegungen war das Verständnis von Hässlichkeit und Schönheit. Typischerweise akzeptierten die Brücke-Künstler die Grobheit ihrer Figuren, die in den farb- und formharmonischen Werken der Blauen Reiter nicht zu finden ist. Kandinsky und seine Kollegen nutzten die totale Abstraktion als Mittel, um die Erfahrung der Menschen in einer entfremdeten und modernen Welt darzustellen. Jedoch taten die Künstler dies nicht in beunruhigenden Bildern, die diese traumatischen Erfahrungen darstellen sollten. Stattdessen schritten die Blaue-Reiter-Maler mit ihren gegenstandslosen und unrealistischen Kunstwerken darüber hinaus. Wiederum blieb diese völlige Abstraktion ins Spirituelle hinein der Brücke-Bewegung fremd.

Kunst als Mission

In seiner Abhandlung „Über das Geistige in der Kunst“ zeigte sich Kandinsky als Kunsttheoretiker mit revolutionären Ansichten. In der spektakulären schriftlichen Auseinandersetzung mit unterschiedlichen Themenfeldern wie Theosophie, Spiritualität, Kunstgeschichte und Farbtheorie gelang es ihm ein emotionales und ausdrucksvolles Plädoyer für die abstrakte Malerei zu postulieren, die den Bereich der naturalistischen und figurativen Malerei in neue Sphären katapultieren wollte. Nahezu in einer messianischen Manier führte der russische Künstler seine Leser zu seiner wegweisenden Idee: durch Kunst (als Künstler und als Betrachter) zur spirituellen Transzendenz. Am besten geeignet für dieses Vorhaben war laut Kandinsky die nicht-gegenständliche Kunst, die vor allem durch ihren Fokus auf Farbe und Form dazu fähig sei die Seele der Menschen zu berühren. „Über das Geistige in der Kunst“ wurde rasch zu einem Bestseller der Kunst- und Kulturszene in Deutschland sowie später Frankreich. Es diente Generationen von avantgardistischen Bewegungen als Anstoß und Inspiration.

Neuer Name, neues Glück: Von NKvM zu „Der Blaue Reiter“

Nachdem die NKvM-Gruppe in drei Jahren und mit mehreren Wanderausstellungen ein gewisses Maß an Aufmerksamkeit und Anerkennung generiert hatte, wuchs zeitgleich stetig eine unangenehme Diskrepanz zwischen dem Hauptgründer Kandinsky und den anderen Mitgliedern. Dieses Auseinanderleben gipfelte im Jahre 1911 in einer Ausstellungsablehnung von Kandinskys Bild mit dem Titel „Komposition V“. Sowohl seine Kollegen als auch das Publikum der NKvM hatten kein Verständnis für die immer abstrakten Werke des Visionärs. Als Konsequenz trennte sich Kandinsky von der Gruppe. Treu folgten ihm nur seine engsten Bekannten Werefkin, Munter und Jawlenksy. Zusammen mit ihnen gründete er mit neuem Elan das radikalere „Der Blaue Reiter“. Benannt nach dem gleichnamigen Gemälde von Kandinsky aus dem Jahr 1903, gab auch in dieser Gruppe erneut der russische Maler den Ton an. Dem charismatischen Russen schlossen sich im Laufe der nächsten Jahre viele berühmte, avantgardistische Künstler an, darunter August Macke, Franz Marc, Lyonel Feininger und Paul Klee sowie der Komponist Arnold Schönberg. Schlussendlich vervollständigten der Deutsch-Amerikaner Albert Bloch, die Russin Natalia Gontscharowa und der Ukrainer David Burliuk die Künstlergruppe um Kandinsky.

Eine neue Ästhetik

Trotz Kandinskys vermeintlicher Vorrangstellung zeichnete sich zunehmend eine weitere Person als zentral für den Blauen Reiter aus. Der deutsche Maler Franz Marc arbeitete intensiv mit seinem russischen Kollegen zusammen. Beide Männer verband eine theoretische Strenge, die auf die gesamte Bewegung positiv abfärbte. Folglich war die neue Gruppe stärker definiert und einheitlicher als die NKvM. 1912 gaben Kandinsky und Marc einen Blaue-Reiter-Almanach heraus, der verschiedene Artikel und theoretische Essays enthielt, unter anderem auch von Schönberg und Macke. Darüber hinaus waren auch 140 Reproduktionen von Gemälden zu sehen. Die Mehrzahl dieser Werke stammte von primitiven Künstler, Kindern oder der Volkskunst. Durch diese Veröffentlichung kehrte der Blaue Reiter der westlichen Kunsttradition provokativ den Rücken zu. Stattdessen diente den Mitgliedern die bestechend ehrliche Ästhetik der sogenannten Outsider und der unprofessionellen Künstler als Inspirationsquelle.

„Der Blaue Reiter“ zieht weiter

Mit dem Ausbruch des Ersten Weltkriegs im Jahre 1914 war auch das Ende von „Der Blaue Reiter“ besiegelt. Kandinsky und seine russischen Kollegen Werefkin und Jawlensky wurden aufgrund ihrer russischen Staatsbürgerschaft deportiert. Der russische Visionär zog in seine Heimat zurück. Werefkin und Jawlensky siedelten in die neutrale Schweiz über. Marc und Macke starben auf dem Kriegsfeld im Kampf.
Zu jenen Zeitpunkten wurden die Mitglieder schon im selben Atemzug mit Meistern wie Klimt, Munch, Gauguin und Van Gogh genannt. Ausschlaggebend für diesen Ruhm war unter anderem eine außergewöhnlich erfolgreiche Ausstellung in Köln im Jahre 1912, die bewirkte das zahlreiche von Kandinskys Werken ein Jahr später erstmals in den Vereinigten Staaten in New York City zu sehen waren.
Unter den ehemaligen Blaue-Reiter-Mitgliedern wurden Kollaborationen und lebenslange Freundschaften weitergeführt. Alle waren weiterhin als Künstler und Dozenten aktiv und erfolgreich. So ernannte beispielsweise die berühmten Kunst- und Designhochschule Bauhaus Anfang der 1920er sowohl Klee als auch Kandinsky zu Lehrkräften.

Ohne die Theorien der Blauen Reiter-Künstler ist der Suprematismus im Russland der 1910er Jahre und die zukunftsweisenden Werke des russischen Malers Kasimir Malewitsch nicht denkbar. Andere nachfolgende Bewegungen wie das holländische De Stijl (u.a. Theo van Doesburg und Piet Mondrian) nahmen sich in Sachen Spiritualität und Abstraktion ebenfalls die Pioniere von „Der Blaue Reiter“ zum Vorbild. Die Kunstwelt hat den visionären und avantgardistischen Künstlern um Kandinsky und ihren bemerkenswerten, theoretischen Ausführungen viel zu verdanken.

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