Von Psychoanalyse bis Punk:
Eine kurze Einführung in die fantastische Welt des Surrealismus
So gut wie jeder kennt die schmelzenden Uhren von Salvador Dalí oder René Magrittes Geschäftsmann, dessen Gesicht – bedeckt von einem schwebenden, grünen Apfel – dem Betrachter verborgen bleibt. Die bekanntesten Bilder des Surrealismus haben sich erfolgreich in das kollektive Gedächtnis der modernen Gesellschaft eingeprägt. Doch die Hintergründe und die Entstehung einer der populärsten Künstlerbewegungen sind weitgehend unbekannt. Tatsächlich war es nicht der berühmteste Vertreter Dalí, der den Surrealismus begründete, sondern der französische Dichter André Breton. An der Spitze der Kunstbewegung lehnte er in den 1920ern gemeinsam mit Gleichgesinnten die Rationalität seiner Zeitgenossen ab. Als unterdrückend und leblos empfanden die progressiven Maler und Bildhauer die Verherrlichung der Vernunft im frühen 20. Jahrhundert. Sie erkundeten in ihren Werken das Irrationale und das Unterbewusstsein, das sie dem wachen Verstand gegenüber als überlegen erachteten.
Auf den Spuren der Seltsamkeit
Der Surrealismus umfasst eine literarische, philosophische sowie vor allen Dingen künstlerische Bewegung am Anfang des 20. Jahrhunderts. In Anlehnung an dem damals aufkeimenden Interesse der Funktionsweisen des Geistes beschäftigten sich die Surrealisten kreativ mit ihren eigenen Träumen und versuchten das Unterbewusste im Menschen darzustellen. Als hohes Ziel setzten sie sich, die menschlichen Wahrnehmung mit ihren Bildern und Schriften zu revolutionieren. Dies wollten sie durch eine radikale Ablehnung der Rationalität erreichen, indem sie dem Wesen der Dinge auf den Grund gingen und diese dann ad absurdum führten.
Der inhaltliche Fokus der Surrealisten lag dabei meist auf Traumwelten und fantastischen Landschaften. Den Träumen und der mentalen Fähigkeit unwirkliche Welten zu imaginieren, gaben sie mit ihren Werken einen physischen Ausdruck. Die frühen Surrealisten richteten sich stark an einer nahezu mystisch oder rätselhaft wirkenden Symbolik aus, deren Elemente sie nach dem Zufallsprinzip auswählten. Diese Methodik des Zufalls hat sich zu späteren Zeiten sowohl besonders in der Perfomancekunst (in den sogenannten Happenings der 1950er) als auch in der aktuellen Computerkunst als fruchtbarer Bestandteil der künstlerischen Herangehensweise erwiesen.
Die köstliche Leiche
Sich von der Vernunft befreien zu wollen, führte unter anderem dazu, dass der Surrealismus die grundlegendste Annahme der künstlerischen Produktion infrage stellte: Ist Kunst lediglich das Produkt der kreativen Vorstellungskraft eines einzelnen Künstlergenies? Als Antwort erschuf André Breton eine Technik zur kollektiven Schaffung von Kunst, die auch heute noch als Spiel immer wieder Anklang findet. Laut Breton wird damit kritisches Denken ausgeschaltet und die metaphorische Fähigkeit des Geistes entfesselt. Hauptsächlich diente diese Methode aber dazu, kollektiv Kunstwerke zu schaffen. Bei der Vorgehensweise mit dem bizarren Namen Cadavre Exquis (zu deutsch: die köstliche Leiche) geht es darum, eine Skizze oder einen Satz zu beginnen und das Papier dann einer anderen Person zu geben, welche wiederum mit der Zeichnung fortfährt – ohne dass diese Person sieht, was bereits gezeichnet oder geschrieben wurde. Der Zufall produziert wie von selbst humorvolle, absurde oder verstörende Bilder.
André Breton und das surrealistische Manifest
Ein besonders einflussreicher Zeitgenosse Bretons war Sigmund Freud. Der österreichische Arzt begründete die Psychoanalyse und prägte mit seinen Theorien und Maßnahmen weltweit Medizin und Kultur. Auch Breton war von den wegweisenden psychoanalytischen Schriften Freuds beeindruckt. Ein Grundpfeiler der Psychoanalyse ist das Unbewusste, das sich in der Regel durch Träume ausdrückt oder durch Gespräche hervorgeholt werden kann. Das Unterbewusste nahm Freud unter anderem als Quelle der Kreativität wahr. Freuds Erkenntnis gab den Künstlern seiner Zeit neue und nie dagewesene Impulse. Um Ideen aus ihrem Unterbewusstsein freizuschalten, bedienten sich surrealistische Künstler dem automatischen Zeichnen oder malten ihre eigenen Träume.
Bereits als junger Mann war André Breton mit Literatur, zeitgenössischer Kunst, Anarchismus und Medizin bestens vertraut. Während in Europa der Erste Weltkrieg tobte, wurde er als Krankenpfleger in einem Militärkrankenhaus in der französischen Stadt Nantes eingesetzt. Von den Schrecken des Krieges tief betroffen, verarbeitete er seine Eindrücke und Emotionen in Gedichten. Guillaume Apollinaire und Jacques Vache, die beide wegen Kriegsverletzungen ins Krankenhaus in Nantes eingeliefert worden waren, wurden zu Bretons wichtigen Mentoren. Apollinaire war ein französischer Schriftsteller, der das Wort „surrealistisch″ schon 1903 in einem seiner Theaterstücke verwendete. Es war jedoch erst André Breton, der den Surrealismus in seinem „Manifest des Surrealismus″ von 1924 wirklich als künstlerische Bewegung definierte. Laut Breton war der Surrealismus von der Kontrolle der Vernunft ausgenommen. Er vertrat die Auffassung, dass die Wirklichkeit nur subjektiv wahrgenommen und wiedergegeben werden kann. Mit dem surrealistischen Manifest grenzte sich der Franzose von seinem Künstlerkollegen Tristan Tzara ab. Einst ein befreundeter Mitstreiter, trennte sich Breton vom dadaistischen Perfomancekünstler Tzara, um seine Kunsthaltung ohne die Einflussnahme des Kollegen zu definieren.
Dalí – Surrealismus in Personifikation
Der exzentrische Spanier Salvador Dalí ist einer der bekanntesten Maler der Moderne. Mit seinen auffälligen und absurden Bildern gilt er als Galionsfigur des Surrealismus. Sein außerordentliches zeichnerisches Talent und seine selbstbewusste Persönlichkeit machten ihn schon früh zum führenden Vertreter der surrealistischen Gruppe, der er sich 1929 anschloss.
Sein Werk mit dem Titel „La persistencia de la memoria″ (zu deutsch: Die Beständigkeit der Erinnerung) stellte er im Sommer 1931 fertig. Das Bildnis der schmelzenden Uhren kann getrost neben Vincent van Goghs Sonnenblumen und Edvard Munchs „Der Schrei″ in der Rangliste der berühmtesten Gemälde der Neuzeit geführt werden. Während des spanischen Bürgerkriegs (1936 bis 1939) hielt sich Dalí in Frankreich auf, bevor er 1940 in die USA zog, wo er einen enormen kommerziellen Erfolg erzielte.
Neben der Malerei umfasste das künstlerische Repertoire Dalís Grafik, Film, Skulptur, Design und Fotografie, oftmals in Zusammenarbeit mit Künstlerkollegen der surrealistischen Bewegung. Die kreative Energie des Multitalents machte auch vor Literatur und Belletristik nicht Halt. Hauptthemen seiner Arbeit waren Träume, Unterbewusstsein, Religion, Wissenschaft, Sexualität sowie seine persönlichen Beziehungen zu Frauen. Zur Verärgerung von Kollegen und Kritikern zog sein unkonventionelles öffentliches Verhalten nicht selten mehr Aufmerksamkeit auf sich als seine Kunstwerke. Trotz seiner Kontroversen – oder gerade deshalb – hatte Dalís Leben und Werk einen großen Einfluss auf andere Surrealisten, Pop-Art-Künstler und zeitgenössische Künstler wie Damien Hirst und Jeff Koons. Zu Ehren Dalís gibt es zwei Museen, die seiner Arbeit gewidmet sind – jeweils an den zwei wichtigsten Lebensorten des Malers: das Salvador Dalí Museum in Florida und das Dalí Theatre-Museum in Figueres in Spanien.
Von Europa nach Amerika bis in die ganze Welt
Paris war die Geburtsstätte des Surrealismus und blieb in den 1920er und 1930ern Jahren das Zentrum der surrealistischen Gruppe um André Breton. Von Frankreich aus eroberte der Surrealismus in kürzester Zeit die ganze westliche Kunstwelt. In Europa waren neben André Breton und Salvador Dalí zahlreiche weitere Künstler prägend für den Surrealimus: René Magritte, Meret Oppenheim, Max Ernst, André Masson, Joan Miró, Man Ray, Yves Tanguy, Jean Arp, und Wifredo Lam.
Viele dieser Künstler (darunter auch André Breton und der deutsche Maler Max Ernst) flohen während dem Zweiten Weltkrieg aus Europa in die USA und beeinflussten die dortige Kunstszene maßgeblich. So trug die surrealistische Kunst mit ihren zentralen Elementen von Zufall und Subjektivität zur Entwicklung einer kriegsfeindlichen und der Spontanität verhafteten Kunst in Amerika bei.
Die berühmten mexikanischen Künstler Frida Kahlo und Diego Rivera werden oft mit dem Surrealismus in Verbindung gebracht. Die temperamentvolle Kahlo positionierte sich jedoch nie als Surrealistin, sondern betonte ihre Eigenständigkeit.
Als André Breton die vierte internationale surrealistische Ausstellung in Mexiko-Stadt organisierte, konnte er Kahlo und ihren Lebenspartner Rivera dennoch erfolgreich davon überzeugen, ihre Werke mitauszustellen. Obgleich das Paar nicht offiziell an die Bewegung gebunden war, sind in ihren Werken mit den Themen Unterbewusstsein, Träume und Symbolik offensichtliche surrealistische Aspekte zu finden.
Ein wichtiger amerikanischer Vertreter des Surrealismus war der in Kuba geborene Künstler Wifredo Lam, der sich der surrealistischen Bewegung – im Gegensatz zu Kahlo und Rivera – auch zugehörig fühlte. Lam studierte in Paris und Madrid, wo er sich mit Picasso anfreundete, der ihm zusätzlich den Kubismus nahebrachte. In seinen Gemälden reflektiert Lam soziale Ungerechtigkeiten und Spiritualität.
Die ersten Punks der Kunstwelt
Das Todesjahr Bretons (1966) markiert für viele Kunsthistoriker auch das Ende des Surrealismus. Als Schmelztiegel avantgardistischer Ideen und Techniken inspiriert der Surrealismus jedoch bis heute zeitgenössische Künstler und Kulturschaffende. Die Methoden der Surrealisten eröffneten eine neue Art der malerischen Praxis, die später insbesondere von den Anhängern des Abstrakten Expressionisten weitergeführt wurde.
Besonders attraktiv ist der Surrealismus bei Schriftstellern, Künstlern, Fotografen, Filmemachern und Kunstsammlern auf der ganzen Welt, die konventionelle künstlerische und moralische Werte vehement ablehnen.
Der Surrealismus gilt als Vater der gegenkulturellen Proteste der 1960er Jahre und sogar des Punks. Als kreative Initiative, die zum Abbau der rationalen Ordnung beitrug, legte der Surrealismus das Fundament für exzentrische Querdenker und extravagante Träumer und wird somit auch in Zukunft eine genauso relevante Kraft sein wie bei ihren Anfängen vor hundert Jahren.