Eine große, eine wirklich überwältigende Welle!
Es war nur als eine von 36 Abbildungen des Fujiyama gedacht
Es gibt Bilder, die kennt buchstäblich jeder Mensch. „Guerníca“ von Pablo Picasso zählt sicher dazu, Albrecht Dürers Selbstbildnis mit den langen, gekräuselten Haaren, Salvador Dalís „weiche Uhren“, Michelangelos Fresko von Gott und Adam, wo der Ewige dem Menschen die Hand reicht, und und und. Nicht dass diese Bilder immer allen gefallen, aber sie sind omnipräsent, gehören zu einem ungeschriebenen Kanon, ähnlich wie es eine Art Kanon der wichtigsten Bücher der Menschheit gibt. Zu diesen Bildern gehört ein Farbholzdruck aus Japan, den kaum ein Mensch noch nicht gesehen haben wird, einfach weil er unweigerlich immer wieder irgendwo auftaucht. Dieser Druck gilt heute als das berühmteste japanische Bild überhaupt. „Die große Welle“ von Katsushika Hokusai war ganz unspektakluär als nur eine von 36 Abbildungen von Japans „Hausberg“, dem Fujiyama, gedacht. Dass es buchstäblich zu einer Ikone werden würde, hätte der Künstler sicher selbst nicht erwartet, wie das oft so geht. Genau so ist es aber gekommen. Das hatte verschiedene Gründe, die nicht nur im Genie Hokusais begründet liegen (auch sein Name ist heute selbst im Westen vielen Menschen durchaus geläufig) , sondern auch in seinem zeitgenössischen Umfeld, in der Geschichte, zu suchen sind.
Wie eine Flaute kurz vor dem hereinbrechenden Orkan
Hokusai wurde vermutlich am 31. Oktober 1760 geboren, in Edo, das heute unter dem Namen Sumida ein Stadtteil der Hauptstadt Tokio ist. Seine Geburt fällt in eine für das Land bedeutende Zeitspanne: Das 18. (und 19.) Jahrhundert war eine Zeit der Umwälzung in Japan. Es herrschten noch die Shogune der Tokugawa-Sippe als der mächtigsten von vielleicht 250 Daimyo-Fürsten in Edo, wo der Regierungsapparat installiert war. Der machtpolitisch bedeutungslose Kaiserhof dagegen hatte seinen Sitz in Kyoto. Die wirkliche Macht übten die Shogune, Japans „Landlords“, aus. Es war eine Zeit von Reformen im Inneren, regelrechten Umwälzungen. Das allerdings erst nach Hokusais Lebenszeit, denn die fiel in eine diesem Umschwung vorangehende Phase regelrechter Depression: Japan schottete sich nach einer anfänglichen zaghaften, zumal erzwungenen, Öffnung nach außen wieder vollständig ab. Das Land, heute mit einer Bevölkerung von mehr als 120 Millionen Menschen größer als Deutschland, verfiel in eine Art lähmender Starre. James Clavell hat das in seinem Buch „Gaijin“ eindrücklich beschrieben, ebenso wie in seinem Roman „Shogun“. Nur sehr wenigen Menschen, Niederländern vor allem, war es überhaupt gestattet, japanischen Boden zu betreten. Dort gar Handel zu betreiben, war nur wenigen Auserwählten erlaubt, die im Hafen von Nagasaki auf einer künstlich angelegten Insel leben mussten. Die Situation war, aus heutiger Sicht, äußerst skurril.
Aus einem Brodeln heraus entsteht eine neue Welt
Während die gesellschaftlichen Verhältnisse mehr und mehr verkrusteten – nichts anderes bewirkt eine solche Abschottung vom Rest der Welt -, gärte es gleichzeitig im Inneren. Japan war nicht wirklich vom Rest der Welt abzusondern, wie es seine Potentaten gerne gehabt hätten. Selbstverständlich drangen Einflüsse von außen, zumal aus dem verhassten Westen, in das Land ein, und die betrafen unter anderem auch die Kunst und das Kunsthandwerk. Soll heißen: Ohne bestimmte Entwicklungen wie beispielsweise die Erfindung des Farb-Drucks, wäre es zu Bildern wie denen von Hokusai und speziell dem der „Großen Welle“ nie gekomen. Dieses Bild ebenso wie viele andere ist nicht einfach nur Produkt des Genies eines Einzelnen; Es ist gleichzeitig Produkt einer technologischen Entwicklung, für welche die Nachfolgenden dankbar sein dürfen.
Ein ganz Großer, der wie ein Komet aus dem Nichts auftaucht
Hokusai war ursprünglich unter verschiedenen Namen bekannt. Das war damals in Japan durchaus üblich. Sein anfänglicher „bürgerlicher“ Name war wohl Nakajima Tokitaro. Über seine Herkunft, seine Familie ist nichts bekannt, gar nichts, was selbst für japanische Verhältnisse einigermaßen ungewöhnlich ist. So lässt sich auch nur darüber staunen, dass er sich unversehens zum Künstler, und noch dazu zu einem Künstler von (späterem) Weltrang mauserte. Von einem Spiegelmacher am Shogun-Hof adoptiert wuchs er auf. So ganz unbedeutend mögen seine Eltern also vielleicht nicht gewesen sein, denn ein Kind aus der „Gosse“ wäre schwerlich in den Genuss einer solchen Patenschaft gekommen. Bekannt ist auch aus seiner Kinder- und Jugendzeit wenig bis nichts. Berichtet wird, dass er mit 15 Jahren eine Lehre als Blockschnitzer begann, eine Tätigkeit, die damals eher als handwerkliche denn als künstlerische galt. Mit 18 Jahren ist er als Mitarbeiter des Ukiyo-e-Meisters Katsukawa Shunsho zu finden, der Maler war und Zeichnungen für Farbholzschnitte lieferte, wie sie in dieser Zeit in Mode kamen (siehe oben, die Erfindung des Farbdrucks betreffend). Er wird also vermutlich früh ein recht großes künstlerisches Potential besessen und entwickelt haben, was auch erkannt worden sein muss.
Er machte die verachtete Volkskunst zu einer großen Kunst
Um die weitere Enwicklung dieses doch irgendwie recht geheimnisvoll gebliebenen Künstlers besser zu verstehen, ist es angebracht, sich sein künstlerisches Umfeld ein wenig näher anzusehen. Das oben erwähnte Ukiyo-e war eine Gattung, die nicht wirklich als Kunst, sondern geradezu abwertend als Kunsthandwerk oder –gewerbe betrachtet wurde, Volkskunst, eigentlich im besten Sinne, in Japan damals aber durchaus negativ bewertet. Die Ukiyo-e-Künstler produzierten „Bilder einer heiteren, fließenden Welt“, am ehesten, wenn man denn unbedingt nach Vergleichen suchen möchte, den zeitlich freilich später anzusetzenden „Hirtenidyllen“ des europäischen Rokoko ähnlich. Sie galten letztlich einfach als „Kitsch“, wobei auch diese Rokoko-Romanzen heute im Auge des kunstsinnigen Betrachters eine andere Bewertung finden als in den ersten Jahrzehnten nach dem Abflauen dieser Bewegung. Yellow-Press könnte man diese Bildchen auch nennen. Der Begriff Ukiyo-e taucht zum ersten Mal 1682 auf, und zwar in einem Buch von Hishikawa Moronobu. Er macht Genrebilder, wie sie etwa um die selbe Zeit beispielsweise die Breughels geliefert haben, auf ganz andere Art, aber teilweise nicht weniger verachtet. Die Holzschneider waren anfangs simple Handwerker, die Vorlagen für Bilder produzierten. Erst als um 1760 in Edo und 30 Jahre später in Osaka der Vielfarbendruck aufkam, nahm die Geschichte dieser Kunst einen ganz anderen, bis dahin ungeahnten Verlauf. Plötzlich waren die Holzschneider und –drucker keine banalen Zulieferer mehr, sondern mauserten sich zu einer eigenen hochwertigen Kunst- und Künstlergilde. Zu ihnen, und das muss sich vor Augen halten, wer sein Werk einigermaßen richtig einschätzen will, gehörte zweifelsohne Katsushika Hokusai, der damals übrigens noch den Namen Shunro gebrauchte. Er malte und schnitt Porträts bekanner Schauspieler, wobei er sich bereits stark von seinen Vorgängern abhob, weil er sie nicht wie gewohnt maskenhaft darstellte, sondern ihre individuellen Gesichtszüge wiedergab, ein in jener Zeit geradezu unerhörter Vorgang. Er ging aber noch weiter, indem er Kurtisanen, Huren, abbildete, und das, inklusive des Aktes selbst, in einer derart drastischen Deutlichkeit, dass es keine Sünde wäre, diese Bilder als Pornographie zu bezeichnen. In der europäischen Malerei und Druckkunst wären derartige Darstellungen damals auf keinen Fall denkbar gewesen. Kleine Abschweifung, einfach, um die Zeit besser zu verstehen: Heute haben nach eigenen Angaben etwa ein Drittel der weiblichen Studierenden (als junge erwachsene Frauen) noch keinen Geschlechtsverkehr gehabt, während sich die Hälfte (!) aller japanischen Männe als „herbivor“, also als „Pflanzenfresser“ bezeichnet, was umschreibt, dass sie keinerlei Interesse an Sex haben. So weltabgewandt Japan im 18. Jahrhundert gewesen sein mag – das war damals auf alle Fälle ganz anders. Natürlich galten Bilder wie diese als anstößig, so wie Hokusai ja auch mit seinen Porträts Anstoß und Aufsehen erregte. Gleichzeitig waren sie aber klammheimlich begehrt, wie etwas, was man lange heiß ersehnt, aber erst jetzt endlich bekommen hat. Kurz und gut: Hokusai stieß mit seinen Arbeiten in eine Lücke, und zwar speziell beim einfacheren Volk.
Ein ärmliches Ende in einer zu Ende gehenden Epoche
Wäre es anders gewesen, hätte er auch beim „gehobenen“ Publikum Anklang gefunden, so wäre sein persönlicher Lebensweg vermutlich ein anderer gewesen. Hokusai reiste viel, durch ganz Japan, wechselte häufig, inzwischen selbst unterrichtend, Lehrer, Schulen und Schüler, ebenso wie seine Namen – damals durchaus üblich. Sein Privatleben stand unter keinem guten Stern. Seine erste Frau starb früh, auch einer seiner Söhne, seine zweite Frau ebenso, und von seinen Töchtern wird berichtet, dass sie sehr unglückliche Ehen führten. Obwohl inzwischen einigermaßen bekannt, um nicht zu sagen berühmt, jedenfalls in Künstlerkreisen, gelangte er nie zu Wohlstand, lebte zeitweise sogar in bitterster Armut – es ist immer wieder ein Wunder, wie solchen Menschen künstlerisch derart herausragende Leistungen gelingen! -, und musste seine Bilder, als Japan in eine wirtschaftliche Rezession geriet, wie ein Pariser Straßenkünstler im Straßenhandel feilbieten. Schließlich kam es auch noch zu einem gesellschaftlich-moralischen Umschwung, der mit seiner repressiven Zensur auch die künstlerische Freizügigkeit weitgehend einschränkte. Hokusai, so wird erzählt, musste sich als Maler-Lakai für vermögende Landsleute verdingen, ein Schicksal, das er mit vielen auf der Welt teilte, wenngleich es für einen wie ihn, der die größte Freizügigkeit gewöhnt gewesen war, besonders bitter gewesen sein muss. Hokusai starb am 10. Mai 1849, etwa zu der Zeit, als die frühe japanische Neuzeit endete und das Tokugawa-Shogunat in Schutt und Asche verfiel.
Jeder einzelne Abdruck ist ein wirkliches Original
So widrig die Lebensumstände seines Schöpfers gewesen sein müssen, so überwältigend ist der spätere Nachruhm seines Werkes. „Die große Welle“ ist auf den ersten Blick ein gar nicht so überwältigendes Motiv. Eine große Meereswelle, schaumbekrönt, bricht sich und wird gleich in sich zusammenfallen. Irgendwo sind einige Fischer in ihren Booten zu sehen, die vielleicht von dem Brecher verschlungen werden. Im Mittelpunkt des Bildes, ziemlich klein, ist am Horizont der Fujiyama zu erkennen. Alles eigentlich ganz unspektakulär, möchte einer meinen. Eigentlich. Dennoch: Wer dieses Bild – es ist immer wieder schwer, sich zu vergegenwärtigen, dass es sich um einen Holzschnitt handelt! – einmal gesehen hat, vergisst es in aller Regel nie wieder. Woran mag das nun wirklich liegen? Die Faszination eines Kunstwerks lässt sich oft schwer begründen. Hier scheint es fast unmöglich. Es mag mit der Kunstfertigkeit seines Erschaffers zu tun haben, denn seinesgleichen hat die japanische Künstlergilde nie wieder hervorgebracht. Seine eigene Zeit wusste das, wie berichtet, nicht zu würdigen. Sie hat es gar nicht erkannt. Von der „Großen Welle“ soll es Schätzungen zufolge mehrere hundert Exemplare geben. Besonders interessant: Weil bei jedem Druckvorgang neu eingefärbt, stets mit anderen Farben, gleicht kein einziges von ihnen auch nur einem einzigen der anderen. Jedes einzelne Exemplar ist ein wertmäßig absolut unschätzbares Original. Näheres findet sich unter Wikipedia. Bessere Auskunft geben selbstverständlich einschlägige Kunstbände aus dem Buchhandel.